Brumm! – Eine flauschige Fabel für das schwarz/weiße Zeitalter

Brumm!

Eine flauschige Fabel
für das schwarz/weiße Zeitalter

Eine Leseprobe

Jedem Menschen wohnt ein Krafttier inne –
so lehren uns die Schamanen:
Man müsse es nur finden, erwecken und befreien.

Doch was, wenn dieses Krafttier
ein verspielter, verschlafener, verleckerter,
territorialer, dickschädeliger Panda ist,
der dein Leben ins Chaos stürzt –
und sich beharrlich weigert wieder zu gehen?

Dr. Urs A. Podini hat seine Lebensträume längst eingetauscht gegen Gehalt, Eigentumswohnung, homöopathisch dosierte Kreativität und eine Lebensgefährtin, die ihn eher duldet als liebt. Doch dann entdeckt er im Schaufenster der Boutique TRANSITIONS! ein flauschig schwarz/weißes Kostüm …

BIBLIOGRAFISCHE DATEN

Helmut Barz: Brumm! – Eine schwarz/weiße Fabel für das postfaktische Zeitalter
Print: ISBN: 978-3966982849 [D] 15,99 € / [A] 16,50 € / [CH] 17,11 CHF
E-Book: ISBN: 978-3969176085 [D] 6,99 €

 

Brumm

Ein Höllensturz

»Brumm!«

Hat er das wirklich gerade laut gesagt?

Urs schmeckt der Silbe nach. Ja, er spürt noch das Rollen des R in seinem Rachen, das Vibrieren des M auf den Lippen.

Er hat es tatsächlich gesagt: »Brumm!«

Hoffentlich erst, als die Tür schon hinter ihm ins Schloss gefallen ist.

Hoffentlich hat er da schon auf dem Bürgersteig gestanden.

Hoffentlich hat er Urs nicht gehört, der Herr Doktor mit seinen grau melierten Haaren und seinem weißen Kittel.

Andererseits: und wenn schon! Der Herr Doktor hält ihn ohnehin für einen Idioten.

Und einen Doktortitel hat er schließlich selber.

Urs – Dr. Urs A. Podini!, so ermahnt er sich streng – macht einen Schritt vorwärts. Sorgsam setzt er den Fuß, um nicht auf die Kanten der Gehwegplatten zu treten. So hat er es auch schon in seiner Kindheit gemacht. »Brumm!«

Noch ein Schritt. »Brumm?«

Noch ein Schritt. »Brumm.«

Noch ein Schritt. »Brumm?!« – Ein empörtes Bärchen, rücksichtslos aus dem Winterschlaf gerissen.

Noch ein Schritt. »Brrrrummmmmmm.« – Das »R« in der Kehle rollend, das »M« auf den Lippen kitzelnd: ein Kind, das Auto spielt.

Noch ein Schritt.

»Brummmmm …« – Mit einem Hauch der Verzweiflung leise verklingend: ein letzter Protest gegen das Unvermeidliche.

Noch ein Schritt.

»BRUMM!« – Machtvoll in die Luft gemeißelt.

Laut, leise, sanft, schroff, zärtlich, verletzend, wütend, erfreut.

Gerufen, gehaucht, geflüstert, gespien, gesäuselt und – gebrummt: »Brumm.«

Da steht Urs nun, die Füße genau auf zwei Gehwegplatten, Zehen und Hacken gleich weit von den Kanten entfernt, und erfreut sich am Klang der fünf zur Lautmalerei gereihten Buchstaben.

Warum geht ihm diese Silbe nicht aus dem Kopf?

Seit diesem Morgen schon.

»Bärchen«, hat Karolin ihn genannt. Aus dem Mund seiner Lebensgefährtin ist das allerdings kein Kosename, sondern ein subtiler Hinweis darauf, dass er abnehmen und daher nicht so viel naschen sollte.

»Hör mal, Bärchen«, hat Karolin an diesem Morgen gesagt und damit ihre übliche Kaskade von Geboten und Anweisungen eingeleitet: den Karolingischen Tagesbefehl.

»Alles verstanden, Bärchen?«, hat sie zum Abschluss gefragt.

Da ist es ihm rausgerutscht, das bestätigende »Brumm«.

Karolin hat das nicht komisch gefunden. Verständlich. Wo doch an diesem Tag das große Symposium beginnt: Ich kann sein, wer ich schon immer war: Körperbilder im 21. Jahrhundert – vom Ideal der Simulation zur hüllenlosen Authentizität.Ihre erste, praktisch im Alleingang organisierte Großtat als frischberufene Juniorprofessorin der Theaterwissenschaft.

Da ist kein Platz für ein vorlautes »Brumm«.

Urs hat sich also sofort bei ihr entschuldigt.

Karolin hat ihm großmütig verziehen und ist dann davongeeilt. Zum Bahnhof. Professorin Doktorin Mariele Juncker-Stockmann abholen – die Star-Referentin des Symposiums.

Seither ist Urs diese Silbe nicht mehr aus dem Kopf gegangen: »Brumm!«

Auch während der Konferenz mit dem Herrn Doktor nicht.

Ja, Konferenz! Als promovierter Germanist weigert sich Urs, das Wort »Meeting« auch nur zu denken – eines dieser brausepulvrig rosafarbenen Wörter, die auf der Zunge kribbeln, als würde man an den Polen einer Batterie lecken.

Die Konferenz hat ihn also dazu gebracht, es laut auszurufen: »Brumm!«

Kaum, dass die Tür des Marktforschungsinstituts ins Schloss gefallen ist.

Die Konferenz ist …

Ja, wie ist sie denn jetzt eigentlich verlaufen?

Gut, weil sie die von Urs erwarteten Ergebnisse erbracht hat?

Schlecht, weil er seinem Kunden jetzt auseinandersetzen muss, dass die kreativen Ideen dessen sechzehnjährigen Sohnes …

Wie hat es der Herr Doktor zusammengefasst?

»Dieses Konzept ist nicht zielgruppentauglich und daher wenig erfolgversprechend!«

Urs sehnt sich nach einer Dusche. Die mitleidig angewiderten Blicke des Herrn Doktors abspülen. Der bei der Arbeit einen weißen, frisch gestärkten Kittel trägt, obwohl er doch Soziologe und Marktforscher ist.

Im Glauben, das Konzept stamme von Urs selbst, hat ihm der Herr Doktor die Leviten gelesen. Er hat Urs minutiös auseinandergesetzt, warum jede einzelne Idee »nicht zielgruppentauglich und daher wenig erfolgversprechend« ist. Bei jedem »nicht zielgruppentauglich« hat der Herr Doktor die Lippen geschürzt und bei jedem »wenig erfolgversprechend« die Nase gerümpft, als röche er Darmgase.

Urs hätte diese Belehrung nicht nötig gehabt.

Er weiß auch so, dass es keine gute Idee ist, einen führenden Anbieter von essenzieller Fahrzeugtechnik als »Bremsen-Babo« zu vermarkten – im »Pimp My Ride«-Stil, untermalt von den Versen des vom Filius eigenhändig gedroppten Bremsta-Raps:

Isch brems disch aus, Alter.
Dann ist aus die Maus, Alter.

Der Herr Doktor hat Urs also wenig Neues zu sagen gehabt. Das allerdings in einem mehrere Zentimeter dicken Bericht. Die ringgebundene Mappe ruht schwer in Urs’ Rucksack: Diese Last muss er jetzt tragen. Nach Hause. In die Agentur. Zum Kunden.

Wenigstens hat Urs recht behalten.

Kein Grund für Triumph und knallende Sektkorken. Urs behält oft recht. Er ist ja nicht erst seit gestern Kreativdirektor und Co-Geschäftsführer der »SummerPod Kommunikations-GmbH Offenbach«.

Deshalb weiß er auch bereits, wie die Geschichte ausgehen wird: Der Kunde wird dennoch auf der Umsetzung des Konzepts seines Sohnes beharren. Er wird viel Geld versenken. Sein Traditionsunternehmen wird im Shitstorm der Häme ins Schlingern geraten. Schließlich wird er im Zorn die Agentur wechseln.

Den Kunden werden sie also in jedem Fall verlieren. Dann lieber vorher noch abkassieren. Das zumindest wird Urs’ beste Freundin und Geschäftspartnerin Alexa sagen.

Also: das Gutachten in die Agentur tragen.

Dem Drang widerstehen, Herrn Dr. Ing. Herzog samt schöpferischem Filius den ringgebundenen Bericht auf die Hinterköpfe zu hauen. Auch wenn der Herr Dr. Ing. Herzog, Geschäftsführer von Herzog Raubach – »dem führenden Unternehmen für Verzögerungstechnik!« – alle Argumente vom Tisch fegen wird.

An den Umsatz denken.

Freundlich nicken und lächeln.

Warum fällt diese Art der Krisendiplomatie eigentlich immer ihm zu?

Eine rhetorische Frage. Urs weiß genau warum.

Seine wenig furchteinflößenden hundertsiebzig Zentimeter Körpergröße – okay, hundertvierundsechzig Zentimeter, aber kein Millimeter weniger.

Seine Stimme. Warm. Weich. Gerne spricht er die von ihm ersonnenen Werbespots und Filmtexte selbst ein – zumindest in der Entwurfsphase.

Der respektheischende Doktortitel. Ob er sich auch einen weißen Kittel zulegen soll?

Und dann ist da natürlich sein Sprachfehler: Urs kann nicht »Nein« sagen.

Eigentlich wäre das Überbringen schlechter Nachrichten ja Aufgabe des »Account Managers« – ein Ausdruck, den Urs nicht anders als kloakenbraun denken kann, mit einem Nachgeschmack von Großkantinen-Bratensoße.

Der Account Manager besteht jedoch auf diesem Titel – und ebenso darauf, »Hörb« genannt zu werden. Mit amerikanisch gerolltem »R«. Er hat mal ein Gastsemester in New York studiert.

Hörb wäre zwar eigentlich für die Kommunikation mit Dr. Ing. Herzog zuständig, hat sich aber schon seit einiger Zeit »strategisch retreatet«, um »One-on-One Communications zwischen Kreativen und Kunden zu enablen«.

Übersetzt: Hörb ist das, was man in der Branche ein Trüffelschwein nennt. Mit seiner empfindlichen Nase wittert er Geschäftschancen ebenso gut wie – in diesem Fall – heraufziehende Krisen. Also hat er den Kopf eingezogen.

Urs schnallt die Riemen seines Rucksacks fester. Dann setzt er erneut seinen Fuß vor. Wieder genau auf eine Gehwegplatte.

Und noch einmal.

Und noch einmal.

Über die Ungerechtigkeiten dieser Welt kann er auch später noch lamentieren. Morgen zum Beispiel. Genau, Morgen!

Er blickt auf die Uhr seines Handys: halb eins. Mittag. Nachmittag. Praktisch schon Feierabend. Also erst mal heimfahren. Duschen. Homeoffice bei einem Glas Rotwein.

Auf zur S-Bahn. Zur Konstabler Wache. Vorbei an »Transitions!«.

 

Er hätte doch den Weg über die Zeil nehmen sollen. Sich mitziehen lassen vom Getümmel auf Frankfurts Einkaufsmeile.

Er hätte nicht auf dem Tanngraben bleiben sollen.

Die parallel zur Zeil verlaufenden Gasse ist bisher von Sanierungswahn und Gentrifizierung verschont geblieben. Zumindest fast: Das Marktforschungsinstitut mit seiner Fassade aus dunklem Stein und verspiegelten Fenstern ragt zwischen den alten Häusern auf wie ein nagelneuer Stiftzahn aus dem kariösen Gebiss eines Kettenrauchers.

Hier, im Tanngraben, gibt es sie noch: die Resterampen und Waffengeschäfte. Die Gebrauchtwarenläden, in denen man sein Smartphone zurückerwerben kann. Die Kneipen, aus denen man das abgestandene Bier bis auf die Straße riecht, und deren Wirte auf die Frage nach einem Latte macchiato antworten: »Latte? Die Puffs sind in der Taunusstraße.«

Und hier – auf der Straßenseite, auf der Urs geht, aber Wechseln hätte auch nicht viel genützt, der Tanngraben ist nur eine schmale Gasse: Hier also hat auch »Transitions!« seine Heimat gefunden.

Schnell daran vorbei!

Diese Scham ist doch albern, ermahnt sich Urs. »Transitions!« ist doch kein Sexshop.

»Find your Identity!«, steht auf dem an zwei Ketten aufgehängten Schild über dem Eingang der kleinen Modeboutique.

Im Schaufenster stehen Pumps – »Bis Größe 47 lieferbar«.

Männliche Schaufensterpuppen tragen Abendkleider mit tiefem Ausschnitt und ohne Abnäher; maskuline Torsi präsentieren Bustiers mit integrierter Oberweitenpolsterung.

In den Schaufenstern der Zeil kann man Aufreizenderes bewundern – wenn auch in kleineren Größen und gefertigt für die stolzen Besitzerinnen doppelter X-Chromosomen. Mit Abnähern. Die Dessous haben keine integrierte Oberweitenpolsterung – zumindest nicht die in der Auslage. Zwar benötigen auch doppelte X-Chromosomen manchmal ergänzende Fülle, doch diese wird schamhaft erst im Geschäft selbst offeriert.

Zum Beispiel bei »Beautiful Curves«, einem Fachgeschäft für Damenunterkleidung auf der im Frankfurter Volksmund »Fressgass« genannten Verlängerung der Zeil.

Beim Gedanken an »Beautiful Curves« reibt sich Urs unwillkürlich den Hinterkopf. Karolin hat ihm mal eine Kopfnuss gegeben – mitten auf der Fressgass –, weil er zu lange in das Schaufenster dieser Boutique geschaut hat.

Das Echo des Schlages hat von den Hauswänden widergehallt – zumindest in Urs′ Erinnerung. Passanten sind mit peinlich gesenktem Haupt an ihm und Karolin vorbeigeeilt. Andere haben gelacht. Die Frauenrunde am Stehtisch des benachbarten Coffeeshops hat geklatscht: Ein geschlagener Mann wird es schon verdient haben.

Auf dem Heimweg hat Karolin ihm dann einen Vortrag gehalten. Über indoktrinierte Körperbilder, heteronormativ-ästhetische Zwänge im Allgemeinen und in der Unterkleidungsbranche im Besonderen sowie über das »männlich-objektivierende Starren« in seinem Gegensatz zum »weiblich-kommunizierenden Sehen«.

Ihre Argumente sind nicht völlig von der Hand zu weisen: Sein Blick in dieses Schaufenster – das muss er sich eingestehen – ist durchaus »männlich-objektivierend« gewesen. Er hat sich vorgestellt, wie es wäre, die ausgestellten Dessous in einem Paarungsritual von realen weiblichen Kurven zu blättern.

Es sind nicht Karolins Kurven gewesen.

Nicht ihr hat er in seiner Fantasie gehuldigt, sondern … Ayla!

Wenn die Auszubildende auf den Wellen ihres Hüftschwungs durch das liebevoll Erdmännchen-Kolonie genannte Großraumbüro von SummerPod segelt, die dunklen Augen glänzend, die Wangen unter dem Karamell ihres Teints gerötet, das Lächeln ihrer Lippen geschwungen wie eine stolze Fahne im Wind, den doppelten Bug ihrer vom Rollkragenpullover keusch verhüllten Brüste vorgereckt, die schwarzen Haare bauschend wie die Segel eines Dreimasters, dann sinkt in ihrer Bugwelle die Produktivität auf null.

Also ist Karolins Kopfnuss wirklich nicht ganz unverdient gewesen, auch wenn sie gleich darauf selbst »Beautiful Curves« betreten hat. Natürlich ohne ihn. Urs solle in der Zwischenzeit Kaffee holen: Mit dieser Anweisung hat sie ihn in den Coffeeshop geschickt – ein Spießrutenlauf an der Frauenrunde vorbei.

Karolin hat bei »Beautiful Curves« übrigens eine schwarzseidene BH-/Slip-Kombination erworben. Für ihre Feiertagsgarderobe. Einmal, nach einer gelungenen Theaterpremiere, hat Urs beides von Karolins tanzgestähltem Körper streifen dürfen. Er hat das als Trostpreis empfunden – natürlich mit schlechtem Gewissen.

 

»Transitions!«: Was Karolin wohl zu der magischen Anziehungskraft sagen würde, die die Auslage der Boutique auf Urs hat?

Sein »Cis-Gender-männlich-objektivierendes Starren«, so hört er Karolin in seinem Kopf dozieren, »ist eine Penetration des Schutzraums für die geschlechtlich nicht-binäre Klientel dieses Geschäfts.«

Das stimmt sicher. Urs ist am Tragen von Damenpumps nicht interessiert. Schon gar nicht in Größe 47.

Das wäre auch gar nicht seine Schuhgröße. Der Schöpfer hat ihm kleine Füße gegeben. Schlanke 39. Tatsächlich tragen Karolin und er beide exakt das gleiche Sportschuhmodell, wenn sie ins Fitnessstudio gehen. Karolin findet das witzig; Urs hat das Geschenk eigentlich romantisch gemeint.

Wie dem auch sei: Bloß keinen Seitenblick in das Schaufenster von »Transitions!«, auch keinen schnell erhaschten!

Er spürt Karolins Finger hart auf seinem Hinterkopf. In innerer Verbeugung vor dem Großmeister der Psychoanalyse muss er zugeben, dass sie seine bereits verstorbenen Eltern erfolgreich als Über-Ich abgelöst hat.

Vorwärts marsch! Augen geradeaus!

Einfach vorbei. Keinen Blick riskieren.

Aber …

Schwarz wie Obsidian.

Weiß wie Schnee.

Die feinen Haare strahlen im Licht der Halogenlampen wie eine Gloriole.

Dieses Objekt, das dort – gehalten von einem Mannequin – im Schaufenster von »Transitions!« steht, verdreht Urs den Kopf.

Doch es bremst leider nicht seinen Schritt.

Er hebt lediglich seinen rechten Fuß nicht so hoch an, wie er es hätte tun sollen.

Eine Platte des Bürgersteigs ist gekippt – unterspült von jenem Dauerregen, der erst vor Kurzem einem warmen Frühling gewichen ist. Die Kante der Platte ragt über den Gehweg empor. Einen Zentimeter vielleicht.

Hoch genug, dass sich Urs’ Schuhspitze daran verfängt.

Sein Fuß wird abrupt gestoppt.

Die restlichen neunundsiebzig Kilo seines Körpers jedoch sind träge Masse: Kopf, Torso, Arme, linkes Bein bewegen sich weiter vorwärts, während der Rückprall seiner Zehen von der Steinplattenkante das rechte Bein nach hinten katapultiert.

»Dort im Schaufenster steht ein Panda und ich werde stürzen.« Ein Moment der Klarheit.

Da schrammen seine Hände auch schon über das Pflaster; der Reibungswiderstand stoppt seine Vorwärtsbewegung.

»Gut, dass meine Unterlagen und mein Notebook im Rucksack und daher geschützt sind.« Noch so eine luzide Hundertstelsekunde, bevor ihm, dem Gesetz der Trägheit folgend, mehrere hundert ringgebundene Seiten gegen den Hinterkopf schlagen – ein letzter garstiger Kommentar des Herrn Doktors und die züchtigende Hand Karolins zugleich.

 

Brumm

Eine Begegnung

»Heavens, Darling! Hast du dir wehgetan?«

Eine Hand taucht in Urs’ Gesichtsfeld auf: lange, schlanke Finger, die sorgsam manikürten Nägel lackiert in der Farbe edlen Rotweins.

Urs versucht sich aufzurichten. Sein Blick streift über ein Paar netzbestrumpfter, muskulöser Beine, die irgendwo in der Stratosphäre unter einem weißen Stretch-Kleid verschwinden. Das Kleid schmiegt sich an einen flachen Bauch, um dann mit Schwung den großzügigen Balkon des Dekolletés zu umschließen. Das Weiß des Stoffes betont den warmen Cappuccino-Ton der Haut, die sich von der Brust unter dem um den Hals geschlungenen, gleichfalls weißen Samtband hindurch elegant hinauf über ein ebenmäßiges Gesicht schwingt. Die Nase dieses Gesichts ragt vielleicht einen Millimeter zu weit vor, die dunklen Augen sind eine Nuance zu groß.

Die wilde, schwarze Lockenmähne ergießt sich – vom Wind gebauscht – über breite Schultern.

Endlich greift Urs nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand – nur um gleich wieder loszulassen und scharf die Luft zwischen den Zähnen einzuziehen. Die Berührung seiner aufgeschürften Haut brennt wie Säure.

Seine unbekannte Wohltäterin nimmt behutsam Urs’ Handgelenk und dreht die Innenseite seiner Hand nach oben.

»Das sieht ja böse aus, Sweetie. You better come in. Da kann ich dich verarzten.« Das R rollt weich über die Zunge, die Betonungen des Satzes wollen sich nach oben wölben, nicht nach unten in die Girlanden deutscher Lautung: ein amerikanischer Akzent.

Die Wohltäterin geht in die Hocke und legt Urs den Arm um den Oberkörper. Dann stemmt sie ihn in die Höhe. Mit Leichtigkeit. Sie wäre vermutlich kräftig genug, Urs aufzuheben, auch wenn er nicht mit seinem unverletzten Bein nachhelfen würde.

Das Knie seines anderen Beines schmerzt noch zu sehr, um es zu belasten, also stützt ihn seine Wohltäterin, während er zur Tür von »Transitions!« humpelt.

Unwillkürlich blickt Urs ins Schaufenster.

Nein, er hat sich nicht getäuscht.

Dort steht, von einer Schaufensterpuppe getragen, die für menschliche Maße gefertigte Hülle eines Pandas. Das langhaarige Kunstfell erstrahlt unter den Halogenlampen der Schaufensterbeleuchtung. Das Kostüm lässt das Gesicht frei, doch die weiße Fellkapuze endet in zwei schwarzen Ohren, die sich in plüschiger Neugier in die Welt recken.

Urs’ Samariterin hat unterdessen die Tür des Ladens aufgestemmt und beendet seine versonnene Betrachtung, indem sie ihn über die Schwelle hebt. Sie setzt ihn vorsichtig auf einen Stuhl vor einer kleinen Verkaufstheke mit eingelassener Vitrine, in der allerlei metallene Ringe feilgeboten werden – viele von ihnen zu groß für einen Finger. Armreifen vielleicht? Für besonders schlanke Handgelenke?

»Ich habe einen Verbandskasten und Disinfectant somewhere. Stay where you are, Darling. Be right back.« Die Wohltäterin verschwindet durch einen mit Holzperlenschnüren verhangenen Durchgang hinter dem Tresen. Die Perlenschnüre rasseln und klappern wie ein Heer von Kastagnetten.

Rumoren. Auf- und energisch wieder zugeschobene Schubladen. Derbe Flüche. »Fuck« und »Shit« sind noch die harmlosesten.

Was jetzt?

Urs hat die Schwelle von »Transitions!« tatsächlich übertreten. Wegschauen ist unmöglich. Oder soll er die Augen schließen?

Nein, das wäre albern. Er wird einfach seinen Blick schweifen lassen. Mit höflicher Neugierde. Wie es Menschen eben machen, die es an einen fremden Ort verschlägt.

Die helle, freundliche Einrichtung des Ladens ist auch gar nicht dazu angetan, schwülstige Fantasien zu inspirieren. Sie beschwört nicht einmal Bilder jener Travestierevuen herauf, die Spießbürger gerne in ihren Stadthallen besuchen, um sich verrucht vorzukommen.

»Transitions!« ist eine liebevoll eingerichtete, wenn auch arg vollgestopfte Modeboutique: deckenhohe Regale, gefüllt mit sorgfältig gefalteten Kleidungsstücken sowie Kästen und Schachteln aller Art. Kleine, mit akkurater Handschrift bemalte Schilder an den üppig bestückten Kleiderständern: »XX«. »XY«. Und »X?«.

Lange Abendkleider. Schlichte Hosenanzüge. Dessous und Korsagen. Seidene Morgenmäntel. Schuhe in den Größen 39 bis 47 – von eleganten High Heels bis zum puschelbesetzten Hausschuh. Das Schild über einem großen Drahtkorb preist Strumpfhosen in Überlänge an.

Urs läuft ein Schauer des Grusels über den Rücken.

Aber nicht wegen der dargebotenen Waren. Frauenkleider sind zwar noch nie sein Ding gewesen, sieht man von einer kurzlebigen Prinzessinnenphase im Alter von vier Jahren ab. Doch Honi soit qui mal y pense. Verflucht, wer Schlechtes darüber denkt.

Urs gruselt sich, weil er sich an das einzige Mal in seinem erwachsenen Leben erinnert, an dem er Frauenkleider getragen hat.

The Gender Experience: So hat das Motto des Kostümfests an Karolins Fakultät gelautet. Seine Lebensgefährtin hatte daher angeordnet, an jenem Abend die Geschlechter zu tauschen.

Sie hat einen seiner Anzüge getragen und ihn dafür in eine nach Lavendel und Mottenkugeln riechende Bluse ihrer verstorbenen Tante gesteckt. In einen Faltenrock, Kniestrümpfe und Gesundheitsschuhe. Karolin hat zudem darauf bestanden, dass er ein Mieder der Tante trägt. Und einen ausgeleierten Damenslip. Er solle doch mal das heteronormative Machtkonstrukt der Geschlechter am eigenen Leibe erfahren.

Urs hat sich den ganzen Abend nichts sehnlicher gewünscht, als die Klamotten wieder loszuwerden und sich unter die Dusche zu stellen.

Nicht, weil er Frauenkleider getragen hat. Im Gegenteil, eigentlich ist das Kostüm recht gelungen gewesen. Im Spiegel hat er ausgesehen wie Tante Anneliese: So hat er damals, als Kleinkind, die matronenhafte Kindergärtnerin rufen müssen, der auf Spaziergängen gerne mal die lederbehandschuhte Hand ausgerutscht ist.

Die Dusche hat er sich gewünscht, weil er auf das Mottenpulver allergisch reagiert hat. Der brennend juckende Ausschlag hat ihn noch tagelang geplagt.

Allein schon der Gedanke an das Kostümfest lässt dieses Jucken wieder seinen Rücken hochkrabbeln. Urs will die Erinnerung des Ekzems wegkratzen, doch er zwingt sich, es nicht zu tun. Das Jucken würde nur noch schlimmer werden.

Auf der Suche nach einem Rettungsring der Ablenkung lässt er den Blick weiter durch den Laden schweifen, bis er an der Schaufensterauslage hängenbleibt.

Urs kann nicht anders. Er humpelt zum Panda hinüber. Am liebsten möchte er mit beiden Händen durch das Fell streifen, um zu sehen, ob es wirklich so flauschig ist, wie der Anblick verspricht. Doch seine Handflächen sind noch immer aufgeschürft und dreckig. Also bewundert er die genau gesetzte Musterung aus weißem und schwarzem Fell, die plüschig keck abstehenden Ohren, aus respektvoller Distanz.

Wie man wohl in das Kostüm hineinschlüpft? Einen Reißverschluss kann er weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick ausmachen. Vielleicht ist der Panda Schaufensterdekoration?

Doch dann entdeckt er das handgeschriebene Preisschild, das mit einer Nadel in den Arm der Schaufensterpuppe gepinnt ist, und muss scharf die Luft einziehen: Für den darauf notierten Betrag bekommt man ja einen Anzug. Bei einem Herrenausstatter. Mit Hemd, Krawatte und Gürtel.

»Beautiful, nicht wahr?« Urs hat seine Wohltäterin gar nicht kommen hören …

 

Dies war eine Leseprobe aus

Helmut Barz: Brumm! – Eine schwarz/weiße Fabel für das postfaktische Zeitalter
Print: ISBN: 978-3966982849 [D] 15,99 € / [A] 16,50 € / [CH] 17,11 CHF
E-Book: ISBN: 978-3969176085 [D] 6,99 €

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
>