Prison Blues

Prison Blues

Dies ist eine Geschichte aus dem Universum meiner Krimireihe um Frankfurts chaotischste Ermittlerin Katharina Klein. Neugierig geworden? Dann könnt ihr jetzt den ersten Band, "Westend Blues", kostenlos (nach Registrierung) herunterladen. Viel Spaß.

Eine Weihnachtsgeschichte aus dem Katharina-Klein-Universum

Für die Leser der Katharina-Klein-Krimis: Auf vielfachen Wunsch handelt meine diesjährige Weihnachtsgeschichte von Hans und Lutz, den Leibwächtern von Antonio Kurtz. Die Geschichte spielt ein paar Jahre vor den Ereignissen von „Westend Blues“. Wer schon immer wissen wollte, wie die Freundschaft der beiden begonnen hat, bekommt hier die Antwort.

Für diejenigen, die die Katharina-Klein-Krimis noch nicht gelesen haben: Dann wird es aber Zeit! Hans und Lutz sind zwei Figuren aus Katharina Kleins Universum. Sie arbeiten als Leibwächter für Katharinas Patenonkel Antonio Kurtz. Lutz ist groß, stämmig, sehr schweigsam und studierter Philosoph. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit, wenn es die Zeit erlaubt. Hans ist klein, drahtig, nicht der Hellste, aber sehr loyal und tapfer.

Nun aber in medias res:

Der Wind trieb den Schnee in großen Flocken am Fenster der Gefängnis-Bibliothek vorbei. Hin und wieder verirrte sich eine Flocke auf das Gitter aus dicken Metallstäben und schmolz langsam. Lutz hatte die Stirn an das kühle Glas gelegt und sah hinaus in die trübe Wintermorgendämmerung. Siebzehnter Dezember. Noch acht Tage bis Weihnachten. Früher hatte er sich immer auf Heiligabend gefreut. Er war in das Kinderheim gegangen, in dem er aufgewachsen war, und hatte den Weihnachtsmann gespielt. Dann hatte er den Kindern vorgelesen. Die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium in der Luther-Übersetzung: „Es begab sich aber zu der Zeit …“ Ein wunderbares Märchen in wunderbarem Deutsch.

Lutz las gerne vor. Immer schon. Sonst redete er wenig. Sätze mit mehr als sieben Worten betrachtete er als Lebenszeitverschwendung. Aber vorlesen? Oh ja, immer.

Doch jetzt musste das Kinderheim schon das vierte Weihnachten in Folge ohne ihn auskommen. Erinnerten die Kinder sich überhaupt noch an ihn? Vier Jahre saß er jetzt schon ein. Vier von sieben Jahren, die man ihm aufgebrummt hatte. Für einen Banküberfall, den er nicht begangen hatte. Jemand hatte ihn angeschwärzt, eine Zeugin hatte ihn „zweifelsfrei“ identifiziert.

Er würde seine Strafe wohl voll absitzen müssen, egal, wie gut er sich führte. Die Beute war bis heute nicht aufgetaucht, und Richter wie Staatsanwalt hatten ihm mehr als deutlich gemacht, was sie erwarteten, um überhaupt über Bewährung nachzudenken.

Nun ja, das war wohl seine persönliche Variante vom „Geworfen-Sein ins Dasein“. Aber es half alles nichts: zurück an die Arbeit! Lutz drehte sich um und warf einen Blick auf das Dutzend großer Pappschachteln mit den neuen Regalen für die Bibliothek, die großen Stapel der Bücher mitten im Raum. Dann sah er sehnsüchtig zu dem kleinen Schreibtisch. Dort lag das Skript der Fernuniversität, sein Exemplar von „Sein und Zeit“ und ein schmaler Band mit Senecas Schriften. Viel lieber hätte er sich jetzt in seine Bücher vertieft. Andererseits konnte er dankbar sein. Der Job als Gefängnis-Bibliothekar war angenehm und ruhig. Relativ selten verirrte sich jemand in die Räume der Bücherei. Das gab ihm Zeit zum Lesen und Studieren. Er hatte im Gefängnis sein Studium in Philosophie und Geschichte fortsetzen können. Der Gefängnisdirektor war stolz auf den gelehrigen Studenten, nannte Lutz immer „seinen erfolgreichsten Resozialisierungsfall“. Lutz fand das ein wenig kränkend. Nicht, dass er nicht schon früher hin und wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen wäre, aber alles in allem hatte er stets ein halbwegs anständiges Leben geführt – unter nicht immer ganz einfachen Umständen. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er sechs Jahre alt war. Sie hat ihm etwas Geld hinterlassen; es hatte ausgereicht, um ihn mit zwölf auf ein Internats-Gymnasium zu schicken. Dort hatte er sein Abitur gemacht, Schnitt 1,3. Artig hatte er seinen Zivildienst abgeleistet – im Kinderheim, in dem er auch aufgewachsen war –, dann angefangen zu studieren. Mit Gelegenheitsjobs hatte er sich über Wasser gehalten: als Türsteher oder als Sicherheitskraft in einem Laufhaus. Letzteres war vermutlich der Grund, weshalb er jetzt einsaß.

Normalerweise gab es keine Probleme. Die Besucher des Bordells waren zumeist genug von seiner großen Statur und seinen breiten Schultern eingeschüchtert, um keinen Ärger zu machen. Doch eines Tages hatte er aus einem der Zimmer Schreie gehört. Er war hineingestürmt, wie seine Aufgabe war, und hatte den Mann, der gerade das Mädchen verprügelte, kurzerhand aus dem Fenster geworfen. Es war zwar nur der erste Stock, aber der Mann war mit dem Kopf in eine Glasscheibe gefallen und hatte eine bleibende Narbe mitten im Gesicht davongetragen. Pech für Lutz. Der Mann war Dimitrij Tschackow gewesen, der Besitzer des Bordells. Er hatte Lutz natürlich gefeuert und ihm Rache geschworen. Doch Lutz hatte seine Tat nicht bereut. Er hasste Gewalt, besonders gegen Frauen und Kinder. Und er hatte nur getan, was Tschackow ihm selbst aufgetragen hatte: für die Sicherheit des Mädchens gesorgt.

Nun denn, genug gegrübelt. Auf an die Arbeit! Lutz hob eines der Pakete an und zog den Klebestreifen ab. Die Bauteile des Regals fielen ihm entgegen. Er wühlte sich durch den Karton, bis er die Bauanleitung fand und begann, die Teile zu sortieren.

***

Plötzlich sprang die Tür auf: der Gefängnisdirektor! In seiner Begleitung betrat ein kleiner, schmaler Mann den Raum, der Lutz an einen Marder erinnerte, und der sich nervös halb hinter dem Gefängnisdirektor versteckte.

„Lehmann, ich hab Verstärkung für dich.“ Nachname und Du, so eine seltsame Angewohnheit des Gefängnisdirektors. Vermutlich wollte er damit Nähe und Vertrauen suggerieren und gleichzeitig Distanz wahren. „Das ist Köhler.“ Der Gefängnisdirektor schob den kleinen Mann in den Raum hinein. „Neuzugang. Verlegt aus Weiterstadt. Also Jungs, vertragt euch!“ Damit hatte der Gefängnisdirektor die Tür wieder hinter sich geschlossen. Der kleine, drahtige Mann stand etwas verloren zwischen den Regal-Kartons, schließlich stieg er über sie hinweg und streckte Lutz die Hand hin: „Ich bin Hans.“ Lutz schlug zögernd ein: „Lutz!“

„Also, was soll ich tun?“

„Regale zusammenbauen. Bücher wieder einsortieren. Werkzeug ist da hinten.“ Lutz deutete mit dem Kinn in eine Ecke des Raumes.

„Na dann mal los!“, sagte der Hans fröhlich und öffnete einen weiteren Karton. Ohne die Zusammenbau-Anleitung zu beachten, machte er sich ans Montieren. Nicht mal eine Viertelstunde später stand sein Regal, während Lutz noch immer über den Teilen aus seinem Karton brütete. „Schieben Sie Bauteil A in die Klemm-Nut und fixieren Sie es mit Schraube C“, murmelte er halblaut. Nur was war Bauteil A? Und welche der Schrauben war Schraube C?

„Du machst das nicht so oft, oder?“ Hans hatte sich über ihn gebeugt. Lutz sah auf: „Nee.“

Hans nahm Lutz die Bauteile aus der Hand: „Also, du musst …“ Er schob vergnügt plappernd die einzelnen Teile des Regals ineinander, als hätte er seinen Lebtag nichts anderes gemacht. Lutz versuchte, seine Bewegungen nachzuvollziehen, aber es gelang ihm nicht.

„Handwerklich hast du nicht so viel drauf, oder?“, fragte Hans mit kaum unterdrücktem Lachen, als er sah, was sein großer Leidensgenosse da anstellte.

„Nee.“ Lutz schüttelte resignierend den Kopf.

„Komm, lass mich mal machen. Sonst werden wir ja nie fertig. Du hast doch bestimmt auch noch anderes zu tun hier. Ich kümmere mich derweil um die Regale. – Keine Sorge, ich kann das. Hab hin und wieder für ein großes Möbelhaus gejobbt. Anlieferung und so.“

„Aber …“ Lutz dachte wieder sehnsüchtig an die dicken Philosophie-Wälzer auf seinem Schreibtisch.

„Geh mir einfach aus dem Weg. Ich mach das schon. Geht schneller so. Wir wollen ja auch irgendwann fertig werden.“

Nun denn, wenn der Kleine es ihm so freundlich anbot. Lutz setzte sich an den Schreibtisch und vertiefte sich in seine Bücher, während Hans hinter ihm fröhlich vor sich hin pfeifend die Regale zusammenbaute.

***

„So, fast fertig!“ Hans‘ Stimme dicht an seinem Ohr ließ Lutz zusammenschrecken.

„Jetzt brauche ich aber doch mal deine Hilfe. Wir müssen die Regale an der Wand festschrauben. Und um die Löcher zu bohren, bin ich zu klein.“

Hans ging zu dem Werkzeugkasten in der Ecke und nahm die Bohrmaschine heraus: „Hey, der Knastchef muss aber echt Vertrauen in dich haben. Da ist alles drin, was man zu einem Ausbruch braucht.“

„Komm bloß nicht auf dumme Gedanken“, knurrte Lutz. „Will hier auch irgendwann mal wieder raus.“

„Nee, nee, keine Sorge, Ausbruch bringt nichts als Ärger.“ Mit einem weichen Bleistift zeichnete Hans die zu bohrenden Löcher ein, dann reicht der Lutz die Bohrmaschine. Lutz drehte das Gerät zweifelnd in den Händen.

„Du hast so was noch nie in der Hand gehabt, stimmt’s?“

Lutz nickte ein wenig beschämt.

„Keine Panik. Einfach schön gerade auf die Wand halten, den Knopf am Griff drücken und etwas pressen.“

Lutz gehorchte, obwohl ihn das schrille Kreischen der Bohrmaschine an den Zahnarzt erinnerte. Heimwerker würde er nie werden.

Endlich waren die Regale fest an der Wand verschraubt. Hans wischte sich zufrieden den Staub von den Händen. „Und jetzt?“, fragte er gespannt.

Lutz deutete auf die großen Stapel: „Bücher einsortieren!“

In diesem Augenblick rief die Glocke zum Mittagessen.

***

Hans und Lutz wurden von einem Wärter in den Speisesaal geführt und reihten sich artig in die Schlange der Essensausgabe ein. Formfleischschnitzel mit fettriefenden Pommes und giftgrünen Erbsen. Naja, wenn es satt machte … Im Knast konnte man es sich nicht unbedingt leisten, wählerisch zu sein.

Hans wählte nur die Pommes und die Erbsen. „Ich bin Vegetarier. Hab mal auf dem Schlachthof gearbeitet. Da hat es mir die Lust auf Fleisch ein für alle Mal verdorben.“

Lutz nickte verständig und schaute mit schlechtem Gewissen auf sein Schnitzel.

Mit ihren Tabletts in der Hand gingen sie durch die endlos langen Reihen der bereits dicht besetzten Tische, um einen freien Platz zu finden. Plötzlich erhoben sich drei Männer und stellten sich ihnen in den Weg. Lutz seufzte. Natürlich. Georg. Der darauf bestand, „Dschorsch“ genannt zu werden. Ein Schläger. Immer auf der Suche nach Möglichkeiten, Punkte für die persönliche Reputation zu sammeln. Er konnte Lutz nicht leiden. Vermutlich, weil sich Lutz durch gute Führung einige Privilegien erarbeitet hatte. In Georgs Hand blitzte eine Gabel.

Seelenruhig stellte Lutz sein Tablett ab. Er hasste zwar Gewalt, aber im Zweifelsfall wusste er sich zu wehren. Wortlos trat „Dschorsch“ einen Schritt auf ihn zu. Doch noch, bevor er zustechen konnte, war Hans zwischen die beiden getreten. „Lass den Großen in Ruhe“, sagte er ruhig und fast gut gelaunt. Dschorsch, ein Hüne von fast zwei Metern Körpergröße, blickte geringschätzig auf ihn herab und legte Hans die Hand auf die Schulter, um ihn beiseite zu schieben.

Im nächsten Augenblick lag sein Gesicht in den Erbsen seines Tischnachbarn, die Gabel fiel klirrend zu Boden, und ein kurzer, knackiger Kniestoß von Hans in Dschorschs Unterleib ließ ihn schmerzerfüllt aufstöhnen. Noch bevor die Wärter heranstürmen konnten, hatte Hans sein Opfer wieder losgelassen. Der so Gedemütigte sackte auf dem Boden zusammen. Rasch beugte sich Hans neben sein Ohr: „Ich hab doch gesagt, du sollst den Großen in Ruhe lassen.“

Seelenruhig richtete sich Hans wieder auf, nahm sein Tablett von dem Tisch, auf dem es abgestellt hatte und bedeutete Lutz, ihm zu folgen. Zielstrebig steuerte auf einen Tisch zu. Die dort sitzenden Mitgefangenen räumten freiwillig ihre Plätze. Erste Lektion im Knast: Geh den Schlägern und Psychos aus dem Weg.

Lutz setzte sich: „Weißt aber schon, dass ich mich auch selbst wehren kann?“

Hans nickte vergnügt: „Klar. Aber die Leute hier sollen mich gleich richtig kennenlernen. Sonst gehen wieder die Spiele los. Den Kleinen ärgern und so.“

„Du bist verdammt schnell“, brummte Lutz anerkennend.

„‚türlich. Wenn Du einen Meter sechzig und verdammt vorlaut bist, lernst du irgendwann, dich zu wehren.“

Sie aßen schweigend. Endlich fragte Hans: „Warum bist du eigentlich hier?“

„Banküberfall. War es aber nicht.“

Hans grinste über das ganze Gesicht: „Na so ein Zufall, ich auch. Und ich war es auch nicht. Erstens bin ich kein Räuber, sondern Taschendieb. Zweitens: Ich bin zwar nicht der Hellste, aber so dämlich, mitten zur Hauptgeschäftszeit eine Bank auf der Zeil zu überfallen, bin ich dann doch nicht.“

Lutz horchte auf: „Bank auf der Zeil?“

„Ja, vor ungefähr fünf Jahren angeblich. Ein paar Millionen Beute, die immer noch weg sind. Geschnappt und verurteilt haben Sie mich aber erst vor ’nem halben Jahr. Angeblich will mich die Kassiererin erkannt haben. Ich soll derjenige gewesen sein, der die Überfall-Notiz geschrieben und über den Tresen geschoben hat. So ein Schwachsinn. So was schreibt man doch vorher, oder nicht?“

Lutz zog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. Sein neuer, kleiner Spielkamerad saß wegen des gleichen Überfalls ein wie er. Und er hat ihn nicht erkannt. Natürlich. Wie auch? Lutz war ja nicht dabei gewesen. Und Hans? Stimmte es, was er erzählt hatte? Dass er auch nicht dabei war? Gut, im Knast saß saßen ja ausschließlich „Unschuldige“. Vermutlich hatte der Gefängnisdirektor sie zusammengesteckt, in der Hoffnung, dass einer von ihnen beiden verriet, wo die Beute versteckt war. Nun denn, man würde sehen. Der Kleine war wenigstens nicht verkehrt. Und zupacken konnte er auch. Alleine hätte Lutz mit den Regalen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag gebraucht. Mal schauen, was man ihm noch so aufs Auge drücken konnte.

Lutz bemühte sich, Hans das komplizierte Signaturensystem der Bibliothek zu erklären. Sein Schüler nickte gelehrig, dennoch war Lutz sich nicht so ganz sicher, ob Hans auch richtig verstanden hatte. „Alles klar?“, fragte er.

„Klar. Lass mich nur machen. Ich arbeite gerne mit den Händen. Außerdem lenkt es mich ab.“

„Wovon?“

Hans seufzte: „Ach, meine Frau ist schwanger mit unserem ersten Kind. – Wäre jetzt lieber daheim. Soll aber wohl nicht sein.“ Mit diesem Satz drehte sich um und hob den ersten Stapel Bücher auf.

Erstes Kind … Lutz nickte für sich: Da wäre er auch lieber zuhause. Im Knast war es schon ein Vorteil, Single zu sein. Nur für sich selbst verantwortlich. Er wollte selbst einen Stapel Bücher aufheben, doch Hans winkte ab: „Ich mach das schon. Geh wieder lesen. Was Spannendes?“

„Wie man es nimmt. Philosophie. Heidegger.“ Doch Hans hörte schon nicht mehr zu. Er war bereits zu beschäftigt, die Bücher auf seinem Arm auseinander zu sortieren.

Wenn er denn unbedingt alleine arbeiten wollte: Den Gefallen konnte Lutz ihm tun. Er setzte sich wieder den kleinen Schreibtisch und schlug „Sein und Zeit“ auf.

„Wow, hier gibt es ja sogar Comics!“ Lutz, der derartig vertieft in sein Buch gewesen war, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie die Zeit verging, blickte auf und drehte sich um. Alle Bücher standen wieder in ihren Regalen, bis auf die letzten Stapel mit den Comics. Hans saß daneben auf den Boden und hatte ein Asterix-Heft aufgeschlagen. Lutz schüttelte den Kopf: So viele Schätze in den Regalen und dann Comics lesen? Naja, jedem das Seine. Er stand auf, reckte und dehnte sich, dann ließ er sein Blick über die Regale schweifen. Plötzlich stockte er: Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Er hatte doch nicht …?

***

Hans hatte die Bücher tatsächlich nach Farben sortiert. Die Bücherregale sahen aus wie ein einziger bunter Regenbogen. Keine Sachgebiete, keine alphabetische Sortierung nach Autoren … Lutz stöhnte auf. Er würde alle Bücher noch einmal aus den Regalen räumen und neu einsortieren müssen. Andererseits wollte er mit seinem neuen Spielkameraden auch nicht schimpfen. Er hatte es ja gut gemeint.

Er schaute auf Hans, der immer noch in sein Comic vertieft war. Mit seinen schnellen, schlanken Fingern suchte er die Bilder nach verborgenen Details ab. Die Sprechblasen ließ er links liegen. Lutz hatte plötzlich einen Verdacht. Konnte das sein? Er ließ seinen Blick über die Regale schweifen und nahm schließlich ein Buch heraus: „1000 ganz legale Steuertricks“. Dieses und andere, ähnliche Bücher hatten Lutz zum Lachen gebracht, als er zum ersten Mal die Bibliothek betreten hatte: Fortbildung für Wirtschaftskriminelle. Davon gab es im Knast tatsächlich ein paar. Steuerhinterzieher, Betrüger … Unangenehme Gesellen. Hielten sich für was Besseres und sahen auf die anderen Gefangenen herab. Irgendwie kamen sie mit der Masche durch. Vermutlich, weil sie solch geistigen Energiesparlampen wie Dschorsch das Blaue vom Himmel versprachen, wenn sie denn erst wieder draußen wären.

Lutz schlug das Buch aufs Geradewohl auf und hielt es Hans hin: „Entschuldige, brauche mal deine Hilfe. Die Schrift ist so klein. Kannst du mir mal die Seite vorlesen?“

Hans sah ihn erstaunt an, doch dann nickte er und nahm Lutz das Buch aus der Hand. Munter begann er: „Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee ausblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee …“

Das war eindeutig keiner von den „1000 ganz legalen Steuertricks“. Lutz nahm Hans das Buch weg. „Du kannst nicht lesen“, stellte er brummend fest.

„Doch, natürlich kann ich lesen. Hast doch gerade …“

„Lüg nicht.“

Hans blickte beschämt zu Boden. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich kann ich lesen. Hab’s nie gelernt.“

Lutz setzte sich zu Hans auf den Fußboden: „Warum das denn nicht? Bist du Legastheniker?“

„Lega… was? – Nein, meine Eltern wollten nicht, dass ich zur Schule gehe.“

„Nicht zur Schule? Aber das ist doch in Deutschland verboten“, wunderte sich Lutz.

Hans rutschte sich windend auf seinen Pobacken hin und her. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. Endlich sagte er: „Hat ja niemand gewusst, dass es mich gibt. Hab im Keller gewohnt. Da gab es nur mich und meine Märchenkassetten. Und Werkzeug.“

 „Was?“

Plötzlich liefen Tränen über Hans‘ Wangen: „Die haben sich für mich geschämt. Mich Missgeburt genannt. Und Bastard. Mein Papa war wohl nicht mein Papa. Mama ist fremdgegangen. Ich bin ausgerückt, als ich endlich groß genug war. Die haben das gar nicht mitgekriegt. Lagen besoffen ihren Betten. Erst später habe ich erfahren, dass ich eigentlich tot bin. So richtig mit Grab und allem. Das haben die den Nachbarn erzählt. Als meine Mama plötzlich nicht mehr schwanger war.“

Lutz legte Hans den Arm um die Schulter, bis er sich beruhigt hatte. Das war ja eine schreckliche Geschichte.

„Hast du sie denn angezeigt?“, fragte etwas hilflos.

Hans schüttelte den Kopf. „Nee, dazu bin ich nicht mehr gekommen. Papa hat irgendwann besoffen im Bett geraucht. Da ist ihnen die Bude über den Kopf in Flammen aufgegangen. Nicht schade drum.“

Lutz konnte dieser Feststellung innerlich nur zustimmen. Wie konnte man nur ein Kind in die Welt setzen und es dann nicht mal zur Schule gehen lassen? Lesen und schreiben lernen?

Moment! Hans konnte nicht lesen und schreiben? Wie sollte er dann die Geldforderung bei dem Banküberfall geschrieben haben? Saß er ebenfalls unschuldig hier? Hat ihn jemand angeschwärzt? So wie jemand – vermutlich Tschackow – Lutz reingelegt hatte?

„Sag mal, hast du Feinde?“

Offensichtlich dankbar für den Themenwechsel schüttelte Hans den Kopf: „Nö, nicht dass ich wüsste … Obwohl: Ich hab mal einem Zuhälter die Brieftasche und die Autoschlüssel geklaut. Und dann seinen Wagen zu Schrott gefahren. Einen weißen Buick Cabriolet. Du weißt schon, so einen amerikanischen Straßenkreuzer. Der war ziemlich sauer. Hat geschworen, wenn er mich in die Finger kriegt, dann …“

Natürlich. Tschackow. Wer sonst? Der fuhr so einen weißen Buick. War ziemlich stolz darauf.

Lutz stand auf. Wenn er sich nicht sehr täuschte, hatte er gerade herausgefunden, wie er – und natürlich sein kleiner Spielkamerad – wieder aus dem Knast rauskommen konnten. Aber dazu brauchte er Hilfe. Und er wusste auch schon, an wen er sich wenden konnte.

Er sah kurz zu Hans, der sich wieder in seinen Comic vertieft hatte, dann ging er zu dem kleinen Schreibtisch und nahm eine der Weihnachtskarten, die der Gefängnisdirektor allen Gefangenen in rauen Mengen zur Verfügung gestellt hatte: eines dieser zahlreichen Resozialisierungsexperimente. Die Gefangenen sollten zu ihrem sozialen Umfeld Kontakt halten, um im Knast nicht zu vereinsamen. Die meisten Insassen machten davon rege Gebrauch, doch Lutz hatte niemanden, dem er hätte schreiben können. Bis jetzt. Der Mann, dem er schreiben würde, kannte ihn zwar nicht. Aber Lutz war sich sicher, dass er für Informationen über seinen Todfeind – Tschackow – mehr als dankbar sein würde. Er setzte sich, nahm einen Stift, dann überlegte er sorgfältig die Worte. Er musste ein wenig verschlüsselt schreiben, der die Post aus dem Gefängnis wurde kontrolliert. Andererseits: Bei der Fülle der Weihnachtskarten bestand eine gute Chance, dass diese Kontrolle nicht allzu gründlich ausfallen würde.

***

Endlich war Lutz mit dem Ergebnis zufrieden. Doch dann sah er noch einmal zu Hans, der immer noch in den Comics blätterte. Nicht lesen und nicht schreiben? Das war wirklich tragisch. Aber vielleicht … Kurzerhand notierte er noch ein Postskriptum.

***

Vierundzwanzigster Dezember. Heiligabend. Lutz hatte gerade wieder den Dienst in der Bibliothek angetreten, als ein Wärter laut mit seinem Schlüsselbund klappernd den Raum betrat. „Lehmann? Mitkommen! Besuch für dich!“

Besuch? Für ihn? Und dann auch noch an Heiligabend? Der Weihnachtsmann etwa? Lutz musste kichern. „Was ist so komisch?“, knurrte der Wärter böse, die Hand auf den Schlagstock gestützt. Lutz faltete sich vor ihm auf seine volle Körpergröße auf. Der Wärter trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Nichts. Komme schon“, knurrte Lutz mit seiner tiefsten Stimme. Dann ließe sich artig von dem Wärter aus dem Raum führen.

Ihr Weg führte sie vorbei am normalen Besucherzimmer. Lutz wollte schon fragen, was das zu bedeuten habe, doch dann stieß der Wärter eine weitere Tür auf: das Anwaltszimmer, in dem gleich drei Leute auf Lutz warteten.

Zwei davon kannte er: Die blasse Erscheinung mit zurückgegelten Haaren war Baumann, sein Pflichtverteidiger, dem das Mandat wohl unter seiner Würde erschien und der es entsprechend an Engagement hatte mangeln lassen. Neben ihm stand ein Kollege: Dr. Meyerbruck, Koryphäe für Strafrecht, was man dem kleinen, kugelrunden Mann mit dem jovialen Lächeln nicht unbedingt zutrauen würde. Der Dritte im Bunde hatte sich wohl zur Feier des Tages in einen Anzug gezwängt und fühlte sich darin sichtlich unwohl. Er war groß, irgendwo zwischen gemütlich und bärig, und hatte einen majestätischen Schnauzer. Er war der Erste, der das Wort ergriff: „Sie hatten mir geschrieben. Mein Name ist Antonio Kurtz.“ Dann bedeutete er Lutz, dass er sich setzen solle.

Die drei Männer stellten viele Fragen, endlich nickten sie zufrieden. „Ja, da kenne mir was machen. Mir müsse‘ natürlisch die Zeuge‘ davon überzeusche, dass sie ihre Aussagen wiederufen“, sagte Dr. Meyerbruck in gemütlichem hessischen Singsang. „Des kann aber ei‘ paar Woche‘ dauern.“

Lutz nickte zufrieden. Auf die paar Wochen kam es jetzt auch nicht mehr an.

Die drei Männer standen auf. Antonio Kurtz musterte Lutz noch einmal: „Und Sie waren das, der Tschackow aus dem Fenster geworfen hat?“

War das jetzt gut oder schlecht? Lutz nickte, aber sicherheitshalber zurückhaltend.

„Ausgezeichnet! Wenn Sie herauskommen, melden Sie sich bei mir. Ich hab da einen Job für Sie.“

Er hielt Lutz die Hand hin, Lutz schlug dankbar ein. Dann nickte Antonio Kurtz Baumann zu, der ein Päckchen aus seinem Aktenkoffer nahm und es Lutz reichte: „Darum hatten Sie mich noch gebeten.“

***

Natürlich hatte Lutz das Päckchen nicht einfach so mit in seine Zelle nehmen dürfen. Es wurde geöffnet, durchleuchtet, abgetastet. Ausgesprochen gründlich. Denn hinter so einem harmlosen Gegenstand konnte sich nur Übles verbergen. Doch letztlich hatte die Beamtin an der Poststelle ihm das Päckchen ausgehändigt und sogar geholfen, es wieder einigermaßen anständig zu verpacken. Vergnügt war Lutz mit dem Päckchen unter dem Arm in den großen Speisesaal gegangen, wo Hans bereits einen Tisch erkämpft hatte. Lutz setzte sich zu ihm und schob das Päckchen über den Tisch: „Für dich. Frohe Weihnachten!“

Hans sah ihn mit großen Augen an: „Für mich? Aber ich habe jetzt gar nichts …“

Lutz winkte ab: „Schon gut. Pack es aus.“

Ehrfürchtig entfernte Hans das Geschenkband und löste den Klebestreifen. Dann faltete er das Papier auseinander. Er nahm das Buch, was darin verborgen gewesen war, in die Hände und drehte es hin und her.

„Was ist das?“, fragte er.

„Eine Fibel. Du musst doch deinem Kind später mal was vorlesen können. Da habe ich mir gedacht, ich bringe dir das Lesen und Schreiben bei.“

Hans sah ihn mit Tränen in den Augen an: „Aber das kann ich doch nicht …“

„Doch. Kannste. Morgen fangen wir an. Dann weißte schon die ersten Buchstaben, wenn wie hier in ein paar Wochen rauskommen.“

„Rauskommen? Ein paar Wochen? Ich hab doch noch sechs Jahre. Mindestens.“

Lutz grinste: „Ich glaube, das wird etwas schneller gehen.“ Er lehnte sich vor und erzählte Hans leise, was sich im Anwaltszimmer zugetragen hatte.

„Cool!“ Hans strahlte über das ganze Gesicht. Dann schlug er die Fibel auf. „Dann lass uns gleich mal anfangen. Will meiner Tochter ja vorlesen können, wenn sie geboren wird. Und ich zeige dir dafür, wie man mit Werkzeug umgeht. Kann ja nicht sein, dass ein Kerl wie du kein Regal zusammenbauen kann.“

Und so geschah es.

Ich wünsche all meinen Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten.

Helmut Barz am 23. Dezember 2012

Dies ist eine Geschichte aus dem Universum meiner Krimireihe um Frankfurts chaotischste Ermittlerin Katharina Klein. Neugierig geworden? Dann könnt ihr jetzt den ersten Band, "Westend Blues", kostenlos (nach Registrierung) herunterladen. Viel Spaß.

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