SIE
Ein Bericht aus der Hölle
Kurzgeschichte
CN: Psychischer Missbrauch, Tod, Depressionen
Er beugte sich über die Toilettenschüssel und erbrach sich. So lange, bis nur noch bittere Galle kam. Rasch spülte er und putzte gründlich mit der Klobürste nach. Er rieb die Schüssel mit Klopapier ab, dann spülte er noch einmal. Spurenbeseitigung. SIE sollten nichts merken. SIE sollten doch nicht glauben, er sei krank. Dann müsste er morgen wieder zu Hause bleiben. Vielleicht den ganzen Rest der Woche.
Rasch kippte er das Fenster an und versprühte Raumspray. Auch der Geruch sollte ihn nicht verraten. Dann ging er zur Tür und lauschte. Nichts zu hören. SIE waren noch nicht nach Hause gekommen. Trotzdem entriegelte er die Tür ganz behutsam und leise. Man wusste ja nie. SIE hatten ihm ausdrücklich verboten, die Tür abzuschließen. Wenn IHREM JUNGEN nun was passieren würde. Dann kämen SIE nicht zu ihm.
Das hatte er verstanden. Wie leicht konnte man in der Dusche ausrutschen. Und wenn einer der Wandschränke abfiel… Das war eine von SEINEN großen Befürchtungen. »Hoffentlich halten die Schränke!» Sie hingen, wo sie hingen, so lange der Junge sich erinnern konnte, aber man wusste ja nie. Und so war es besser, das Badezimmer nicht abzuschließen. Zu seiner eigenen Sicherheit. Zu seinem Wohlergehen.
Vieles geschah zu seinem Wohlergehen. Wären SIE heute Abend nicht weggefahren, hätten ER oder SIE bestimmt schon längst nach ihm geschaut, hier im Bad. Aber sie waren nicht da. Es würde spät werden, hatte ER gesagt. Er solle sich keine Sorgen machen, sein Essen sei vorbereitet, wenn er vom Sport käme, hatte SIE gesagt. Aber mit dem Herd solle er vorsichtig sein. Er ist doch ein großer Junge, hatte ER, darauf gesagt, er weiß, was er tun muss. ER war stolz auf seinen Jungen.
Und so war der Junge heute vom Fußball-Training nach Hause gekommen, hatte schweigend gegessen. Gemüsesuppe. Minestrone. SIE hatte gerade einen italienischen Kochkurs absolviert. Und dann hatte ihn Caroline besucht. Der Junge wollte nicht daran denken.
Jetzt würde er am liebsten auf den Dachboden gehen. Dort wo SEINE elektrische Eisenbahn stand. Die interessierte den Jungen nicht sonderlich, aber dort hatte er sein Heft versteckt. Sein Zeichenheft. Es lag unter einem losen Brett, zusammen mit seinen Bleistiften und der Zeichenkohle. SIE mochten es nicht, wenn er zeichnete. Er käme auf dumme Gedanken. Abitur machen. Architektur studieren. Das war sein Wunsch.
Aber das ist doch brotlos, hatte ER gesagt. »Schau Dir doch die Bauwirtschaft an!«. Und SIE… Was war IHR Einwand gewesen? Vermutlich: Zu gefährlich. Sie fand eigentlich alles, was er machte, zu gefährlich. Fußballspielen durfte er nur, weil ER das durchgesetzt hatte. Dem Jungen machte es auch keinen besonderen Spaß. Aber er ging hin. Zweimal die Woche. Weil es gut für ihn war. Und die Lehre als Bürokaufmann würde wohl auch gut für ihn sein. Der Ausbildungsvertrag lag schon im Wohnzimmerschrank. Er musste ihn nur noch unterschreiben. ER hatte dafür gesorgt. Hatte Beziehungen. SIE war glücklich. Ihr Junge würde sicher sein und etwas Anständiges lernen. Und der Betrieb war ganz in der Nähe. So hätte er es nicht so weit.
Er stand immer noch im Bad und überlegte. Sollte er es wagen, auf den Dachboden zu gehen? Und wenn sie früher kämen? Und ihn erwischten? Dann wäre sein Zeichenheft weg. Und er durfte nicht allein auf den Dachboden. Zu gefährlich. Die Dachbodenleiter hätte ihn erschlagen können. Würde SIE sagen. Und ER würde sich um seine Eisenbahn sorgen. Das sind doch Werte! Und sie würden wieder nicht mit ihm sprechen. Und deshalb würde er nicht auf den Dachboden gehen, sondern in sein Zimmer. Und deshalb schloss er die Badezimmertür niemals ab. Außer, er war sicher, nicht erwischt zu werden.
Einmal hatte er hinter sich abgeschlossen, und SIE hatten es gemerkt. Den ganzen Tag hatten SIE nicht mit ihm gesprochen. Nur Schweigen und Blicke voller Vorwürfe. In der Nacht hatte er nicht schlafen können. Und am nächsten Morgen war alles wie immer. Er hatte mit IHNEN duschen dürfen. Damals war er 12. IHR strammer Junge.
IHR Junge. So nannten SIE ihn immer. ER sagte es voller Stolz. SIE sagte es, als sei er soeben aus dem Nest gefallen. SIE meinte es wohl zärtlich.
Er betrachtete er sich im Spiegel. Vielleicht hatten sie Recht. Er sah aus wie ein Junge. Obwohl er schon 16 war. Manchmal hänselten sie ihn deswegen in der Schule. Aber es war nicht böse gemeint. Er kam mit allen gut aus. Auch mit IHNEN. Und manchmal hörte er die Mädchen hinter seinem Rücken tuscheln. »Süß«, sagten sie. Auch Caroline.
Sie war heute Abend bei ihm gewesen. Einfach vorbeigekommen, als er gerade vom Fußballtraining nach Hause kam. Trug ein bauchfreies Topp unter ihrer Jacke, obwohl es bereits Oktober war. Sie hatten im Wohnzimmer gesessen. Auf dem Sofa. Hatten Apfelsaft getrunken. Ob er vielleicht was zum Reintun hätte? Was mit Alkohol? Nein. Er trank niemals Alkohol. Und die Hausbar war abgeschlossen. Als er sich wieder zu ihr setzte, hatte sie ihn geküsst. Mit Zunge. Und ihre Hand…
Er hatte immer noch ihren Geschmack im Mund. Apfelsaft und Speichel und Kaugummi. Er putzte sich die Zähne, doch der Geschmack ließ sich nicht vertreiben, auch als er die Zunge mit der Zahnbürste schrubbte.
Ihre Hand war an seinem … DING gewesen. Und beinahe hätte er den KRAMPF bekommen.
Es klingelte an der Tür. Der Junge sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Um diese Uhrzeit? Hatten SIE den Schlüssel vergessen? Kaum vorstellbar. Er ging durch den Flur und blickte durch den Spion. Ein Polizist. Und zwei Leute in Zivil. Der Polizist klingelte ein zweites Mal. Der Junge öffnete die Tür einen Spalt.
»Guten Abend, mein Name ist Kleinert, vom 11. Revier. Dürfen wir einen Augenblick hineinkommen?«
Er hatte sie hereingebeten. Sie hatten im Wohnzimmer gesessen. Dann hatte einer der beiden Männer in Zivil angefangen zu sprechen. Pfarrer Erhardt, Polizeipfarrer. Der Junge hatte nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Polizeipfarrer. Das Wort wanderte in seinem Kopf herum, während der Mann redete. Es hatte einen Unfall gegeben. SIE waren wohl einem Reh ausgewichen. Und auf nassem Laub war der Wagen ins Schleudern gekommen. Der Junge kannte das kleine Waldstück. Und die scharfe S-Kurve. Oft war er mit IHNEN durchgefahren. SIE hatte immer auf die verbogenen Bäume gezeigt. Einmal war an einem die Borke abgesplittert. Dann hatte SIE von leichtsinnigen Rasern gesprochen.
Der Junge hörte kaum hin, als der Polizeipfarrer seine tröstenden Worte sprach… »tragisches Unglück« … »sofort tot« … »nicht gelitten« … Der Junge wartete auf »Gottes unergründliche Wege«. Das hatte der Pfarrer bei der Beerdigung seines Großvaters immer wieder gesagt. Doch niemand sagte »Gottes unergründliche Wege«.
Der Polizist musste ihn zweimal ansprechen, bevor der Junge ihn wahrnahm. Ob er jemanden hätte, zu dem er gehen könne. Nein. Ob er wolle, dass jemand bei ihm bliebe. Morgen früh käme ein Fürsorger, aber man könne … Der Junge schüttelte den Kopf. Er käme schon klar.
Der dritte Mann, der bisher nichts gesagt hatte, bot ihm ein Beruhigungsmittel an. Ein Arzt? Vermutlich. Aber der Junge lehnte ab. Er hätte IHNEN doch versprochen, niemals Drogen zu nehmen. Ja, er käme bis morgen früh alleine zurecht. Er habe alles, was er brauche. Nein, er würde keine Dummheiten machen. Er wolle nur allein sein.
Endlich waren sie gegangen. Der Polizist hatte seine Schulter gedrückt. Der Arzt hatte ihm seine Visitenkarte gegeben. Der Polizeipfarrer hatte seine Handynummer auf einen Zettel geschrieben. Er könne ihn jederzeit anrufen. JEDERZEIT! Der Junge hatte sich artig bedankt. Dann schloss sich die Tür hinter ihnen. Ordentlich pinnte der Junge die Visitenkarte und den Zettel an die Pinnwand im Flur. Und ging auf sein Zimmer.
Der Junge lag auf seinem Bett und sah zur Decke. Er weinte nicht.
Das war wohl der Schock. SIE hatte beim Tod von Großvater auch nicht geweint. Das wäre der Schock. Hatte ER gesagt. Das käme später. So war das wohl.
Angestrengt dachte er nach. Was würde jetzt wohl werden? Er könnte zu seiner Großmutter ziehen. Sie lebte allein in ihrem viel zu großen Haus. Das sagte sie immer. »Viel zu groß«. Und sie hatte auch nichts dagegen, wenn er die Badezimmertür abschloss. Der Junge ärgerte sich über diesen albernen Gedanken.
Er hatte die Jalousien an seinem Fenster offengelassen; das Licht einer Natriumdampflampe zeichnete die Schatten eines Baumes an die Zimmerdecke. Einer Kastanie. Sie stand in IHREM Vorgarten.
Früher hatte er sich ein Baumhaus gewünscht. »Zu gefährlich!«, hatten SIE immer gesagt. Und ER hatte davon erzählt, wie er sich beim Klettern als Kind den Arm gebrochen hatte.
Jetzt könnte er doch…
Er könnte jetzt ein Baumhaus bauen. Er könnte jetzt jederzeit zeichnen, wenn ihm danach war. Er könnte jetzt Abitur machen. Er könnte jetzt Architektur studieren. Er könnte jetzt…
Er müsste nur den Lehrvertrag nicht unterschreiben und sich am Gymnasium anmelden. Seine Noten waren gut genug. Seine Lehrer hatten sich immer gewundert, dass er nur auf der Realschule war. All das könnte er…
Nein. »Als das kann ich jetzt tun!«, korrigierte er sich.
Er war jetzt FREI. Das Wort hallte in seinem Kopf wider. Frei, frei, frei…
ENDLICH!
Der Junge begann zu weinen.